Der Mythos von der „freiwilligen Ausreise“

Vor einigen Wochen hat die Kampagne „Glückstadt ohne Abschiebehaft“ einen offenen Brief mit der Forderung nach einem Abschiebestopp in die Erdbebengebiete in der Türkei an die verantwortlichen Ministerien von SH, MV und HH geschickt. Daraufhin haben wir Antwort vom grün geführten Sozialministerium in Schleswig-Holstein erhalten, die wir hier einordnen wollen. 

Das Sozialministerium schreibt zu Beginn seiner Antwort: „Rückführungen sind immer mit menschlicher Härte verbunden. Deshalb wollen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, bevor es hierzu kommt. Vorrang vor einer zwangsweisen Rückführung hat in allen Fällen die Förderung der freiwilligen Ausreise. Deshalb gibt es für die Betroffenen die Rückkehr- und Perspektivberatung“. 
Aus dieser Antwort springen der:dem geneigten Leser:in die gesetz-gewordenen rassistischen Vorurteile der Großen Koalition nahezu entgegen. Von einem grünen Sozialministerium haben wir mehr erwartet. Im Folgenden einige Fakten gegen irreführendes Framing.

Beschönigendes Wording: „Rückführungen“

Im Themenfeld Abschiebungen spielen Wording und Framing eine große Rolle. Konservative Politik versucht ihre rassistischen Gesetze in den letzten Jahren netter zu verkaufen als sie tatsächlich ist. Die Parteien, die mit der Union zusammen rassistische Gesetzesverschärfungen verantwortet haben und verantworten, übernehmen dieses Wording leider allzuoft und verschleiern damit den insitutionellen Rassismus. Im Kontext von Glückstadt ist das bekannteste Beispiel „Wohnen minus Freiheit“ für Freiheitsentzug für Menschen, die keine Straftaten begangen haben.
„Rückführungen“ sind Abschiebungen. Abschiebungen sind keine „menschliche Härte“, sondern staatliche Gewalt. Diese Gewalt kann tödlich enden. Immer wieder verschwinden Menschen in den Zielstaaten, werden inhaftiert, sterben an fehlender Behandlung oder begehen Suizid aus Angst vor den Erstgenanntem oder weil die Verhältnisse zu erdrückend sind. Wer Abschiebungen organisiert und verantwortet, trägt auch die Verantwortung für die Konsequenzen. 

„Alle Möglichkeiten ausschöpfen“

Betroffene können nur ausschöpfen, was rechtlich möglich ist. Der rechtliche Rahmen wurde in den letzten Jahren von Union und SPD auf Bundesebene gesetzt und ist entsprechend der rassistischen Haltung eines Horst Seehofer ein äußerst enger Rahmen, der rechten Ideologien und populistischen Schemata von „guter/böser Flüchtling, „Asylmissbrauchund „keine Anreize schaffen folgt. Diese Politik wird gerade von der SPD unter der Leitung von Nancy Faeser weitergeführt. 
Jüngstes Beispiel sind die angedachten Abschiebungen nach Afghanistan, die völlig sinnloserweise an den rechten Mythos vom „kriminellen Flüchtling“ kultivieren anstatt sich mit tatsächlich drängenden Problemen zu befassen (zB zunehmender rechter Hetze und Gewalt gegen Geflüchtete). Und auch die Regelung zum sog. „Chancenaufenthalt“, die die SPD als fortschrittliche Politik verauft, führt im Grunde fort, was die Union begonnen hat: Es handelt sich um eine Altfallregelung statt um eine dauerhafte Lösung, die Menschen die Möglichkeit für eine Bleibeperspektive abseits des Asylverfahrens gibt
Und ganz praktisch gedacht: Um alle Möglichkeiten ausschöpfen zu können, müssten die Betroffenen alle Möglichkeiten kennen. Doch genau der Zugang zu Wissen wurde in den letzten Jahren durch die Große Koalition immer weiter reschwert. Heillos überlastete Asylrechtsanwält:innen sind kaum ein tatsächlicher Zugang zu Wissen und selbstbestimmten Entscheidungen. Ebensowenig sind es dürftig vorhandene und im ländlichen Raum oft schwer erreichbare Beratungsstrukturen. Am offensichtlichsten aber hält die staatlich organisierte Isolationspolitik Wissen von den Betroffenen fern: Ankunftszentren, Sammellager und „Ausreisezentren verhindern den Zugang zu Informationen, indem sie Asylsuchende von Unterstützer:innen und der Gesellschaft abschotten. 

„Förderung“ der „freiwiligen“ Ausreise

Das „Fördern“ der Ausreise meint in der Realität, den psychischen Druck auf die Betroffenen so stark zu erhöhen, dass sie ihm „freiwillig“ nachgeben. Die rassistischen Gesetzesverschärfungen und sog. Asylpakete der letzten Jahre nehmen Menschen mit Duldung die Luft zum Atmen. Man baut ihnen sozusagen ein unsichtbares Gefängnis um den Alltag: Extreme Leistungskürzungen (auf ca. 30 bzw. 180€, je nachdem, in welcher Einrichtung man untergebracht ist), Arbeitsverbote, sowie Residenz- und Meldepflichten. Diese staatlich verorndete Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit treibt regelmäßig Menschen in Depressionen. 
Wer das Bleiben so unerträglich macht, dass das Gehen als bessere Lösung erscheint, kann kaum guten Gewissens von einer „freiwilligen“ Entscheidung sprechen. Dieses Wording sollte also von progressiven Akteur:innen keinesfalls übernommen werden. Sofern die Grünen sich als solche verstehen, sollten sie auch benennen was passiert: Der Staat drängt Menschen mittels psychischem Druck zur Ausreise in zumeist schlimmste Zustände.

Um sich selber besser zu fühlen: Rückkehr- und Perspektivberatung

Das „Perspektiv-“ in Rückkehr- und Perspektivberatung ist ein schlechter Witz. Auch hier verschleiert das Wording die Realität: Die Beratenden können unterm Strich nichts anderes tun als den Betroffenen die Zustände im Herkunftsland schön zu reden und ihnen ein bisschen Geld für die Ankunft zu beantragen.
Nennen wir sie also lieber Ausreiseberatung. Denn die Funktion der Beratung ist klar: Ausreise! Sie ist ideologisch motiviert und entspringt der konservativen rassistischen Logik, die Einreise nur unter den eigenen streng gesetzten Regeln vorsieht und jeden zur Ausreise drängen möchte, der:die diese Regeln nicht einhält. Das zeigt sich bereits in der Systematik dieser Beratung: Die ersten Informationen zur „freiwilligen Ausreise“ erhalten Asylsuchende schon in den Erstaufnahmestellen, also wenige Tage nach ihrer Ankunft in Deutschland – nicht etwa wenn „alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind“. 
Ausreiseberatung ist meist bei den Ausländerbehörden angesiedelt, also Institutionen, die für alles andere als für transaparente und ergebnisoffene Beratung bekannt sind . In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise (von wo ein Drittel der Haftplätze in Glückstadt belegt werden sollen) gibt es ausschließlich staatliche Ausreiseberatung durch die repressiv agierenden Ausländerbehörden, zu denen insbesondere geduldete Menschen aus guten Gründen meistens keinerlei Vertrauen haben.

Kontext: Ideologie „konsequent abschieben“ nun auch made by Grünen und SPD

Seit Jahrzehnten fußt die Abschiebe- und Abschottungspolitik auf einer rassistischen konservativen Vorstellung davon, wer in Deutschland sein soll und darf. Die SPD trägt diese Politik ebenfalls seit Jahrzehnten (mindestens seit dem sog. „Asylkompromiss“) fröhlich mit. Anstatt nun mit einer liberalen Ampelkoalition einen echten Kurswechsel einzuschlagen, führen sie das Gewohnte fort. Die SPD ist sich nicht zu schade die Unions-Propaganda übernehmen. So verkündete die ehemalige Bundesfamilienministerin und derzeit Ministerpräsidentin von MV kürzlich beim Minsterpräsident:innentreffen als Antwort auf rassistische Hetze gegen Geflüchtetenunterkünfte: „[…] es geht auch darum, dass Menschen, die kein Schutzrecht haben, wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen.“ Täglich grüßen die 90er, nur etwas eloquenter: „Konsequent abschieben“ statt „Das Boot ist voll“. 
Es ist kein Zufall, dass im Lagebericht „Rassismus in Deutschland“ der Begriff des institutionellen Rassismus nicht auftaucht. Auch rassistische Gesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz sucht man vergeblich. Es lässt sich eben leichter über den Rassismus des rechten Randes reden als über den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft anzugehen, den der Großteil der Deutschen toleriert.

Wir fordern:

Rassistische Gesetze auf Bundesebene streichen! Ausnahmslos. 
Refugees Welcome statt Abschiebungen und Abschottung! 
Echte Bleibeperspektiven statt Ausreisedruck!
Abschiebeknast in Glückstadt schließen! Denn auch er ist ideologisch motiviert.